Claudia Seidensticker hat vor zwölf Jahren den Verein Krass gegründet. Hier vermittelt sie mit vielen ehrenamtlichen Helfern und Künstlern Kindern – insbesondere aus sozial schwachen Familien – Kunst und Kultur. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Arbeit, den neuen Herausforderungen durch die geflüchteten Kinder aus der Ukraine und einer besonderen Ehrung.
Können Sie zunächst erzählen, was bei Krass gemacht wird?
Wir vermitteln kulturelle Bildung in fünf Unterbereichen: Kunst, Musik, Tanz, Theater und neue Medien. Da bieten wir für Kinder kostenlose Workshops und Projekte an, vor allem kümmern wir uns um finanzschwache Kinder. Jeden Tag sind wir mit unserem Kulturmobil unterwegs zu den Spielplätzen, insbesondere in den Brennpunktgebieten. Hinzu kommen Angebote in Schulen, Ferien- und Freizeitprojekte, Nachhilfe und Hausaufgabenbetreuung.
Das klingt nach jeder Menge Arbeit.
Dafür haben wir auch ein sehr großes Team. Im Hintergrund ist ein Management-Team von 30 bis 40 Ehrenamtlern beschäftigt, alles zur organisieren. Wir sind da sehr breit aufgestellt mit vielen Experten, die uns helfen. Die Künstler, die direkt mit den Kindern arbeiten, sind akademisch entsprechend ausgebildet und werden als Dozenten auch bezahlt. Unterstützt werden sie von vielen ehrenamtlichen Helfern, die bei uns ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen.
Und jetzt kommt noch Ihre Arbeit mit den geflüchteten Kindern aus der Ukraine hinzu?
Genau, seit dem 11. März sind wir an sieben Tagen in der Woche für jeweils drei Stunden auch dort und malen mit den Kindern Bilder. Im ersten Monat sind so über 1200 Bilder entstanden, unzählige Kratzbilder und Aufkleber haben sie gestaltet, Armbänder und Ketten geknüpft. So haben die Kinder zumindest für ein paar Stunden Ablenkung und eine Beschäftigung.
Wie stemmen Sie das personell?
Wir haben in kurzer Zeit über 60 neue ehrenamtliche Helfer rekrutieren können über die sozialen Medien. Außerdem sind zwölf unserer professionellen Kunstschaffenden vor Ort. Speziell hier setzen wir auch zwei Kunsttherapeuten verstärkt ein. Die meisten Kinder machen aber einen sehr stabilen und guten Eindruck.
Wie wurden die Kinder dann auf Sie aufmerksam?
Wir sind in der Messehalle und in einem Hotel vor Ort, in dem Geflüchtete untergebracht sind. Dort sind wir mit dem Bus hingefahren und die Kinder sind dann recht schnell auch zu uns gekommen, das hat sich schnell rumgesprochen. Kurz darauf haben wir auch Plakate auf Ukrainisch in den Räumen aufgehängt, das führt zu weiterem Zuwachs.
Wie ist es denn für die Geflüchteten dort vor Ort?
Ich selbst bin noch nicht da gewesen, ich organisiere alles nur aus dem Hintergrund. Aber es fehlt natürlich an Privatsphäre, bei rund 2000 Menschen dort, darunter 600 Kinder, die in Messehalle sechs schlafen, in einer anderen Halle gibt es Platz zum Essen, außerdem wurden Waschmaschinen hingebracht. Der Sportaction-Bus vom Stadtsportbund bietet ein Sportprogramm an. Viele Geflüchtete können sonntags rausgehen, aber sonst ist es natürlich auch mit viel Nichtstun und Langeweile verbunden. Dort sind vor allem Frauen mit ihren Kindern, aber auch Großeltern untergebracht. Am Wochenende sammeln wir teilweise auch Kinder mit dem Bus ein, damit sie bei uns im offenen Atelier Zeit verbringen können.
Wird das von der Stadt mitfinanziert?
Nein, unser Engagement dort wird von uns finanziert. Ein paar Förderer, die schon 2015 bei den Geflüchteten viel geholfen haben, sind auch sehr früh von sich aus auf mich zugekommen, um das zu unterstützen. Dadurch können wir das Angebot auch noch eine Zeit lang aufrechterhalten.
Woher kommen überhaupt die Gelder für Ihren Verein?
Krass lebt von Spenden und Förderungen vom Bund oder Land. Wir haben das immer im Blick, welche Möglichkeiten es da gibt und ein eigenes Team, das sich um die Akquirierung von Geldern kümmert. Jetzt gerade gibt es beispielsweise einige Möglichkeiten, weil im Rahmen des Aufholpakets nach Corona einiges an Geldern für Kinder frei geworden ist. Im Sommer können wir so beispielsweise mit 16 Kindern nach Griechenland fliegen.
Wie ging es dem Verein denn während der Pandemie?
Wir haben sehr schnell umgeschaltet auf digitale Kunst. Plötzlich konnten wir ja nicht mehr in die Schulen und auf die Spielplätze. Stattdessen haben wir für die Kinder Materialtüten gepackt und bei ihnen zu Hause vorbeigebracht. Da waren dann Kunstsachen drin, damit sie an Digitalworkshops teilnehmen konnten. Wir haben auch Laptops und Tablets gesammelt, teilweise waren die dann mit in den Tüten – wir wussten ja, dass bei vielen Kindern keine Endgeräte da waren. Die haben zu Beginn ihre Hausaufgaben teilweise auf einem kleinen Smartphone-Bildschirm gemacht. Bei manchen Kindern haben wir auch Lebensmittel mit eingepackt.
Kümmern Sie sich abseits der Pandemie auch darum, dass die Kinder mit Essen versorgt werden?
Im Rahmen unserer Nachhilfe und Hausaufgabenbetreuung gibt es bei uns auch warmes Mittagessen oder etwas Gesundes zwischendurch, das ist wichtig für viele Kinder. Einige werden ja auch in der Schule versorgt, aber wenn beides wegfällt, wird es in manchen Familien schon knapp.
Ihr Verein wächst ja auch immer noch.
Stimmt, 2022 kam unser Standort hier in Vennhausen dazu (wir sitzen während des Interviews im großzügigen Garten einer mehrstöckigen Villa, einige Kinder arbeiten mit zwei Betreuern an den entstehenden Beeten). Daneben gibt es unsere Räume in Düsseltal und Heerdt. Abseits von unserem Mutterhaus in Düsseldorf haben wir noch Social Franchises in mehreren deutschen Städten, darunter Trier und Hamburg, aber auch in Shanghai, Athen und jetzt auch in Kurdistan im Irak.
Und Sie selbst haben vor knapp einer Woche für Ihr Engagement eine besondere Ehrung bekommen.
Mir wurde am 13. April von Ministerpräsident Hendrik Wüst im Neusser Zeughaus der Landesverdienstorden verliehen für mein Engagement im Bereich der kulturellen Bildung für Kinder und Jugendliche. Das hat mich wirklich berührt und die Laudatio von Herrn Wüst war sehr bewegend.
Früher waren Sie selbst Künstlerin – heute bekommen Sie Orden verliehen. Wie sah der Weg dorthin überhaupt aus?
2004 hatte ich einen schlimmen Unfall und war zwei Jahre lang im Krankenhaus und der Reha. Danach war ich schwerbehindert und plötzlich Rentnerin – ich konnte nicht mehr so arbeiten wie zuvor. Mit meinem Mann habe ich eines Abends auf dem Sofa gesessen. Er ist ein sehr strategischer Kopf, bis sechs Uhr morgens haben wir diskutiert. Danach hatten wir das Gerüst für Krass und setzen es bisher ganz erfolgreich um. Für Kinder ist Kunst und Kultur etwas sehr Wichtiges – es freut mich, sie hier zu sehen und macht mich stolz, dass wir ihnen das alles ermöglichen können.
Was haben Sie in Zukunft noch vor?
Wir arbeiten langsam an meiner Nachfolge, in ein paar Jahren möchte ich gerne kürzertreten. Ganz zurückziehen werde ich mich wohl nicht, als Mentorin und Vorstand bleibe ich dem Verein erhalten. Vielleicht habe ich dann auch mehr Zeit, mich um weitere neue Standorte zu kümmern. Wir übernehmen einen Großteil der Administration in Düsseldorf – in anderen Städten liegt also das Hauptaugenmerk ganz auf der Arbeit mit den Kindern. Mein Vorbild ist Wellcome aus Hamburg, davon gibt es deutschlandweit über 200 Standorte, die eine Franchise-Gebühr an die Zentrale zahlen. Mit den Geldern könnte man dann auch die Administration finanzieren – die Fördermittel sind schließlich an die Bildungsarbeit gekoppelt.
RP 29.4.2022 von Julia Nemesheimer